Politik

Sonntag, 19. September 2010

Mein Statement zur Atomdebatte

besetzte Reichstagstreppen während Anti-Atom-Demo vom 18.9.2010 in Berlin. U.a. steht auf einem Schild "Hier regiert der Atommüll! - Wer zuletzt strahlt, strahlt am längsten."

Blick auf Bundeskanzleramt in Berlin am 18.09.2010 bei der Anti-Atom-Demo. Zu sehen sind Atomfässer und ein Plakat "Hier regiert der Atommüll! - Wer zuletzt strahlt, strahlt am längsten!"

Samstag, 22. August 2009

Neues Barbarentum

Aber der neue Bundesfinanzminister, wer immer es auch sein wird, hat die weit undankbarere Aufgabe. Er wird die ungeheure Neuverschuldung zurückfahren müssen. Auf der Ausgabenseite wird das in nennenswertem Umfang angesichts des Widerstands der "Besitzstandswahrer" politisch schwer durchsetzbar sein. Die Sozial-, Bildungs- oder Kulturbereiche werden erbitterten Widerstand leisten.Quelle: Zeit-Interview mit Wolfgang Franz

Ich bin angesichts dieser Dreistigkeit und dieses Barbarentums entsetzt. Was hat dieser Mann an der Spitze des Sachverständigenrates zu suchen???

Freitag, 21. August 2009

Demokratie nach Gutsherrenart.

Auch Michael Spreng beklagt das Ausklammern wichtiger Themen aus dem Wahlkampf. Ich denke, dass man dieses Schweige-Phänomen sehr ernst nehmen muss, denn hier verbirgt sich eine undemokratische Attitüde erster Güte. Man kann durchaus den Vergleich zur Agenda 2010 und den damit verbundenen Sozialstaatsreformen ziehen.

Es gibt in Deutschland eine "massenhaft zu Engagement und Eigenverantwortung eindeutig bereite[n] Bürgergesellschaft" [1], die aber für den Umbau des Sozialstaates nie ernsthaft einbezogen oder beteiligt wurde. Die gesamte Agenda 2010 war ein Projekt, das von oben nach unten durchgesetzt wurde, Rot-Grün wurde dafür nicht gewählt.

Auch jetzt geht es wieder darum, den Citoyen (also den Bürger in seiner politischen, teilhaberischen Variante) außen vor zu lassen, ihn nicht zu aktivieren und nicht an den tatsächlichen Machtprozessen zu beteiligen. - Wo käme man schließlich hin, wenn man die Wörter Demokratie und vor allem Republik wörtlich nähme? Eben. Man kann die Entwicklung also nur dahingehend deuten, dass das nächste von oben nach unten mittels TINA-Argumentation durchzusetzende Projekt vor der Tür steht. Demokratie nach Gutsherrenart. Im Gegensatz zum Citoyen dürfte der Bourgeois [der Wirtschaftsbürger] dabei ohne großes Federlesen seinen Einfluss geltend machen können.

Es stellt sich nur die Preisfrage: Was macht der Citoyen? Bislang nichts. Und die gewitzte, aber traurig-wahre Erklärung des Tages liefert mal wieder Ulrike Herrmann: Er hat das falsche Klassenbewusstsein. (Eine Erklärung, die nach Behandlung im kommenden Lehrauftragsseminar schreit).

[1] Embacher, Serge (2009): "Demokratie! Nein danke? Demokratieverdruss in Deutschland", Bonn : Dietz, S. 90

Mittwoch, 19. August 2009

Der Begriff "Postdemokratie"

Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagiert nur auf die Signale, die man ihr gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main, S. 10

Scheinbar hält man sich auch in diesem Jahr peinlich genau dran.

Freitag, 14. August 2009

Der Wahltag als Trauertag

Denke ich an den Wahltag im Herbst, so wird mir ehrlich gesagt richtig mulmig. Wir dürfen zu einer Wahl schreiten, auf die weiterhin vier Jahre Merkel folgen. Ob mit Westerwelle oder einer geschrumpften SPD spielt letztlich keine große Rolle, weil auch in der gegenwärtigen SPD die konservativen Kreise das Zepter fest in der Hand halten und Angst vor jedem linken Gedanken haben, der einerseits tatsächlich etwas ändern könnte und andererseits von konservativen Medien (also fast allen) als Linksrutsch diffamiert werden würde. Und das, obwohl die Zeit nach einer starken und standhaften Sozialdemokratie schreit. Aber diese Schröder- und Post-Schröder-Partei: Ach, vergiss es.

Die Grünen (abgesehen von Cornelia Behm) haben zwar die besten Wahlplakate und auch kein so schlechtes Programm, aber wenn man gut hinhört, dann hört man, wie wichtige Stimmen einer Liaison mit der CDU durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen. Nicht umsonst betont man hier, man macht einen reinen grünen Wahlkampf, nur für Grün, damit man hinterher umso flexibler sich an Mutter Merkels Busen sich schmiegen kann. Und das wäre tatsächlich eine offene Kampfansage an große Teile der WählerInnen und auch MitgliederInnen. Gerade bei den Grünen weiß ich in diesem Jahr überhaupt nicht, woran ich bin: Ja, diese Partei hat fähige Leute im Parlament, unter anderem Gerhard Schick. Und inhaltlich hat sich die Partei in der letzten Zeit durchaus nach links bewegt. Zugleich hat sie einen starken bourgeoisen (um nicht bürgerlich zu schreiben) Flügel, dessen Hauptziel der Dienst an der eigenen Klientel ist: Bio ja, aber bitte auch eine Schuldengrenze, schließlich ist ein ausgeglichener Haushalt lebenswerter als eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur. Die Haltung zur Bahnprivatisierung (weitestgehend FDP-kompatibel und orientiert auf Privatbahnen) zeigt, das neoliberales Denken auch in dieser Partei (oder zumindest in wichtigen Teilen) fest verwurzelt ist.

Und die Linken? Mh. Sie sind die einzigen, die derzeit meine wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen vertreten und makroökonomische Kompetenz beweisen. Sie besetzen wichtige Themen und vertreten sie so, dass ich ihnen zustimmen muss. Und ja, sie sind im Osten auch eine Partei der Kümmerer und vertreten hier auch die Milieus, die im Westen grün-alternativ sind. Aber ein Blick hinter die Kulissen offenbart zugleich, dass das öffentliche Bild der modernen, sozialen, gewerkschafts- und facharbeiterlich geprägten Partei vielleicht im Westen stimmen mag, aber hier im Osten dürfte die Linke nach wie vor die Partei mit dem höchsten Durchschnittsalter sein. Zumindest hier in Potsdam bestimmen die alten SED-Leute das Bild (siehe die Bilder auf jener Mitgliederversammlung. Und ein beachtlicher Teil dieser Milieus ist ähnlich konservativ und ordnungsfixiert wie die CDU. Weltoffen sieht anders aus.

Die Piraten? Ebenfalls mh. Angesichts der Wirtschaftskrise und der sozialen Schieflage halte ich es für grob fahrlässig, Themenkreise jenseits von Netz- und (politischen/persönlichen) Bürgerrechten zu missachten. Diese Wahl ist eigentlich zu wichtig, um nur ein Thema mit meinen Kreuzen auf den Wahlzetteln zu bestimmen.

Tja, was bleibt da? Zunächst großer politischer Frust. Der kommt daher, dass es faktisch in diesem Jahr in Anbetracht der politischen Großwetterlage nichts zu wählen gibt, aber zugleich die Zeit für einen radikalen Kurswechsel reif ist. Die Parteien, aber auch die großen Medien inszenieren passenderweise einen Nichtwahlkampf um Busen, Dienstwagen und anderen PR-Peinlichkeiten. Finanz- und Wirtschaftskrise? Vorbei, denn jetzt kommt der Aufschwung zurück. HRE und eine Reform des Bankenwesens samt Aufsicht? Viel zu kompliziert und uninteressant. Außerdem ist das ja systemrelevant. Lobbyismus? Ach, das machen doch alle. Hallo, geht es noch?? Für wie dumm lassen wir uns eigentlich verkaufen? Wo sind die Gewerkschaften, nachdem sie im Mai noch diese wirklich beeindruckende Demo in Berlin auf die Beine gestellt haben? Wo sind die kritischen KünstlerInnen, die lokal oder national die Menschen in Verwirrung stürzen und damit zum Denken und zum Diskutieren anstiften? Ist dieses Land kollektiv im Urlaub oder unter Vollnarkose auf der Intensivstation?

Nichts wünsche ich mir politisch dringlicher als eine offene Debatte über dieses Land, über die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit und darüber, wie wir aus diesem Schlamassel einigermaßen klug herauskommen, wen wir wofür zur Rechenschaft ziehen und wen wir was bezahlen lassen wollen. Vielleicht bin ich auch bereit, meinen kleinen Beitrag zu leisten. Aber dafür verlange ich, dass den Hauptteil die zu übernehmen haben, die den Staat und damit alles, was zur Infrastruktur des Landes gehört, in den letzten Jahren gnadenlos abgezockt und beraubt haben. Dass ich ein glaubhaftes, mindestens durch Rücktritte unterstrichenes Wort der Reue höre. Aber da passiert nichts. Und noch etwas fehlt mir in diesem Wahlkampf: Der politische Streit um Visionen von der Gesellschaft, in der wir zukünftig leben möchten. Und da gehört für mich unter anderem dazu:
  • eine solidarische Gemeinschaft, in der keiner für Hungerlöhne ausgebeutet wird, sondern alle von ihrer Arbeit leben können, und in der alle ihren (finanziellen) Beitrag für diesen Ausgleich leisten und keiner mehr an den Pranger gestellt wird, nur weil er keine Arbeit finden kann,
  • eine demokratische Gesellschaft, die den BürgerInnen und Bürgern des Landes Freiräume ohne Zugangsbarrieren offenhält, sich einzubringen und das Gemeinwesen mitzugestalten, wozu sowohl eine Absicherung der individuellen Notlagen, als auch das Recht auf materielle, politische und kulturelle Teilhabe, als auch auf überwachungs- und herrschaftsfreie Räume, also auch eine gute öffentliche Infrastruktur (Daseinsvorsorge und nicht zuletzt Bildung) gehört,
  • eine offene Gesellschaft, die auch bereit ist, das "Andere"/"Fremde" zuzulassen, seien es Menschen aus anderen Gegenden und mit anderer Kultur, seien es Menschen mit Behinderungen, seien es Lebensweisen, die der geschlechtlichen Heteronormativität nicht entsprechen,
  • eine Öffentlichkeit, die nicht durch die Interessen von Medienkonzernen, PR-Agenturen und Lobbyorganisationen geprägt ist,
  • ein Staat, der abrüstet und zwar sowohl nach außen als auch nach innen und damit das Misstrauen und die Angst gegenüber seinen BürgerInnen überwindet (in der Innen- und in der Sozialpolitik!),
  • eine Politik, die bereit ist, aus eigenen Fehlern zu lernen und deshalb auch nach eigenen Fehlern sucht,
  • eine Gesellschaft, die weiß, dass sie der Natur Respekt zu zollen hat und sich darauf besinnt, dass die ökologische Krise noch vor uns steht.
Das ist noch längst nicht alles, was mir in diesem Land fehlt, aber darum sollten wir uns doch wohl bemühen können.

Vielleicht kann mir ja auch jemand widersprechen und zeigen, dass ich mich irre, dass der Wahltag und damit die kommende Legislaturperiode noch nicht verloren sind, aber bislang werde ich wohl zur Urne wie zu einer Beerdigung schreiten.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Mittwoch, 12. August 2009

keine Ahnung von Inhalten

Noch etwas Kurzes, weil's grad reinkam: Dabei geben selbst Bundestagsabgeordnete im persönlichen Gespräch zu, bei zahlreichen Abstimmungen keine Ahnung von den Inhalten, geschweige denn den Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu haben - und man hört wenig von Gewissensqualen.Quelle: FR.

Und genau deshalb muss die Öffentlichkeit gestärkt werden. Öffentlichkeit ist dazu da, Probleme in die Diskussion zu bringen, und mittels (experimenteller) Untersuchungen eine Folgenabschätzung zu gewinnen. Und genau an der Stelle krankt das System. Zuviel in zu schneller Zeit wird da über die Bühne gebracht, so dass Demokratie und Öffentlichkeit auf der Strecke bleibt. Soviel Pragmatismus zum Tage. Wer mehr wissen will, sei mal wieder auf John Dewey verwiesen, entweder auf dessen "Logik. Die Theorie der Forschung" (wobei es besser Untersuchung heißen müsste) oder auf "Die Öffentlichkeit und ihre Probleme" (meine Taschenbuchausgabe hat das Cover mit der intensivstem Augenkrebseffekt, den ich kenne) :) Und zum Zeitthema empfehle ich einfach mal von Hartmut Rosa "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne."

Schönes Zitat zur Demokratie

Die Demokratie ist ihrem Wesen nach allgemein, oder sie ist keine Demokratie. Die sozialen Rechte von Minderheiten lassen sich nicht außer Kraft setzen, ohne die Gesellschaft insgesamt zu verändern und in Mitleidenschaft zu ziehen.*
So sieht es aus, wenn man Demokratie nicht nur auf politische und persönlich-bürgerliche Rechte beschränkt. Und mit Minderheiten sind hier soziale Minderheiten gemeint, nicht zuletzt Arbeitslose und Fürsorgeempfänger.

*Kronauer, Martin: Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus, Frankfurt a. M. : Campus, 2002, S. 235, (eigene Hervorhebung)

Montag, 23. Februar 2009

groteske Meldung des Tages

Schavan will Top-Mitarbeiter von Unternehmen als Lehrer einsetzen

Unternehmen sollten nach Vorstellungen von Bundesbildungsministerin Schavan ihre besten Beschäftigten als Lehrer an Schulen schicken. Sie fordere alle Firmen auf, ihre Top-Mitarbeiter für den Unterricht freizustellen, sagte Frau Schavan der "Bild"-Zeitung. Ein solcher Austausch würde sinnvolle Impulse für die Schüler bringen. So könnte etwa ein Ingenieur zwei Stunden wöchentlich Physik- oder Mathematikunterricht geben.Am Wochenende war eine Studie des Münchner ifo-Instituts bekannt geworden, nach der Abiturienten mit guten Noten nur selten Lehrer werden.

(Quelle: DLF-Nachrichten 23.02.2009 9 Uhr)
Und wozu haben wir LehrerInnen? Hin und wieder muss man sich echt fragen, ob die NachrichtenredakteurInnen nicht völlig merkbefreit sind und wirklich jeden Nonsens aus der Union verbreiten müssen. Mit IngenieurInnen und anderen Firmenangestellten SchülerInnen für den Lehrberuf gewinnen. Warum nicht, sie sind ja die richtigen Vorbilder und haben alle garantiert Pädagogik studiert.
Oder sind die NachrichtenredakteurInnen einfach nur subversiv??

Mittwoch, 18. Juni 2008

Berliner Rede

Angesichts der gestrigen Berliner Rede (neoliberales Wischiwaschi wird hier nicht verknüpft: bei Interesse selber suchen, stattdessen verweise ich auf eine Analyse) möchte ich einmal eine ältere Rede aus der gleichen Reihe mehr oder weniger hier wieder geben.

Wenn wir diese Zukunft gestalten wollen, wenn wir sie menschlich gestalten wollen, dann brauchen wir zweierlei: Vertrauen in die, die für uns Verantwortung tragen und die Bereitschaft, selber Verantwortung zu übernehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die notwendigen Veränderungen schaffen können. Genauso fest glaube ich aber, dass der Mangel an Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft der eigentliche Grund für die massive Verunsicherung ist, für die an vielen Stellen pessimistische Stimmung und für die mangelnde Kraft zur Veränderung.

Wir alle wissen: Vertrauen kann man nicht anordnen, nicht befehlen. Vertrauen kann man nicht beschließen. Vertrauen muss wachsen. Vertrauen wächst zwischen einzelnen Menschen, in Gemeinschaften und muss eine ganze Gesellschaft prägen.

Ohne Vertrauen können Menschen nicht friedlich miteinander leben.

Ohne Vertrauen werden wir unsere Probleme nicht lösen.

Erst Vertrauen schafft das Klima für wirtschaftlichen Erfolg, für wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt, für technische Innovation.

Tatsächlich aber ist Verunsicherung so etwas wie ein allgegenwärtiges Gefühl geworden, das unsere gesamte Gesellschaft erfasst. Das ist lebensgefährlich.

[...]

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man Menschen zu besserer oder zu mehr Leistung motivieren kann, wenn sie ständig Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder im Alter in Not zu geraten. Jeder Mensch braucht eine gewisse Grundsicherheit, damit er den Kopf frei hat, auch für Anstrengung und Erfolg im Beruf.

[...]

Der Vertrauensverlust in unserem Land hat aber auch ganz handfeste Gründe. Es sind ganz konkrete Handlungen und Einstellungen, Worte und Taten, die immer mehr Menschen tiefes Misstrauen einflößen.

Wir müssen zum Beispiel erleben, dass einige, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verlorengegangen zu sein. Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der sogenannten Eliten schwächen auch das Vertrauen in die Institutionen selber, wenn deren Repräsentanten offenbar alle Maßstäbe verloren haben.

Wir müssen in den Debatten über Veränderungen und Reform auch erleben, dass allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben wird, wo es um nichts als Gruppenegoismus, um Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit geht.

Häufig glauben die Bürgerinnen und Bürger einfach nicht mehr, was sie hören und sehen. Sie machen zu oft die Erfahrung, dass man vielem, was in aller Öffentlichkeit gesagt wird, nicht trauen kann. Es ist auch kein Ausweis des Vertrauens, wenn über manche, die in der Öffentlichkeit stehen, gesagt wird: "Denen ist alles zuzutrauen."

Gewiss: Jeder kann sich gelegentlich irren. Was man heute aus Überzeugung vertritt, kann durch neue Umstände überholt werden. Das ist so, und das sollte man dann auch öffentlich sagen. Aber die bewusste Manipulation der Wahrheit oder der Tatsachen zerstört Vertrauen - manchmal endgültig.

Vertrauen in die Politik wird auch zerstört, wenn der Eindruck entsteht, in nahezu jeder Frage gehe es in erster Linie darum, wer sich gegen wen durchsetzt, wer wem am meisten schadet, wer zurückgesetzt wird oder sich wieder ein Stück weiter nach vorne gekämpft hat.

Dadurch werden nicht nur wichtige Sachfragen als Nebensache behandelt, so dass am Ende oft das Falsche oder Dilettantisches herauskommt. Dadurch entsteht auch der fatale Eindruck, in der Politik komme es letztlich nur darauf an, wer die Macht hat und nicht so sehr darauf, was er mit ihr macht. Dann wären wir bei Lenin angekommen, für den sich alle Politik auf die Frage reduzierte: Wer wen?

[...]

Eine wichtige Grundlage für Entscheidungen, die heute getroffen werden müssen, sind Prognosen und Voraussagen.

Auch hier wachsen Zweifel: Welche Prognosen sind seriös? Werden Voraussagen, die für die meisten Menschen handfeste Folgen haben, wirklich immer nach bestem Wissen und Gewissen gemacht? Sind sie nicht oft interessengeleitet? Wird nicht manches besonders hoch und anderes herunter gerechnet? Werden nicht bestimmte Wertungen zu Grunde gelegt, aber nicht offengelegt?

Wir hätten schon viel gewonnen, wenn Prognosen und Voraussagen regelmäßig, nach einem Jahr, nach zwei oder fünf Jahren darauf überprüft werden, was sie wirklich wert waren. Schon das könnte eine heilsame Wirkung haben. Dann könnte man sogar aus Fehlprognosen lernen.

Leichtfertige Prognosen, die irgendeinen Niedergang vorhersagen, wenn nicht sofort dies oder jenes geschieht, zerstören Vertrauen genauso wie Versprechen, von denen man wissen kann, dass sie nicht einzuhalten sind.

Das geschieht trotz besseren Wissens immer wieder, und darum haben viele Menschen sich mittlerweile darauf eingestellt, vorsichtshalber erst einmal gar nichts mehr zu glauben.

Diese Haltung führt über Politikverdrossenheit hinaus zur völligen Abkehr vom politischen Leben. Kein demokratischer Staat hält es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des "Wir da unten, die da oben" durchsetzt. Gewohnheitsmäßiges Misstrauen in die Politik untergräbt die Fundamente der Demokratie und ist ein riesengroßes Einfallstor für Populisten und schreckliche Vereinfacher aller Art. Die haben auf alles eine Antwort und für nichts eine Lösung.

Misstrauen wächst auch dann, wenn wichtige politische Entscheidungen in immer kleineren Kreisen getroffen werden. Nun weiß jeder, dass es manchmal wirklich nötig ist, sich hinter verschlossenen Türen zu beraten, um zu einem Konsens oder zu einem Kompromiss zu kommen, den alle mittragen können.

Solche Vereinbarungen schaffen nur dann Vertrauen, wenn die Verständigung echt ist, wenn kein fauler Kompromiss kaschiert wird und wenn alle sich an das halten, was sie gemeinsam verabredet haben. Wenn die Verfallszeit von Verabredungen aber kürzer ist als die eines Bechers Joghurt, dann schürt das den Eindruck, dass die politisch Verantwortlichen sich letztlich nicht verständigen wollen oder können.

Besonders schädlich ist es, wenn sich immer mehr das Gefühl breit macht: "Die da oben können es nicht - und zwar auf allen Ebenen und auf allen Seiten." Ein Umfrageergebnis ist in der Nachkriegsgeschichte übrigens absolut neu: Noch nie hatten so wenig Menschen in Deutschland Vertrauen in die Politik einer Regierung - und noch nie haben gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser.

Das ist der Ausdruck einer tiefgreifenden Vertrauenskrise. Von Ausnahmen abgesehen, geht die Beteiligung bei Wahlen bedenklich zurück. Auch langjährige Mitglieder wenden sich von den Parteien ab. In manchen Gegenden fehlen schon Kandidaten für die Wahlen in den Städten und Gemeinden.

Darin drückt sich für mich das gefährlichste und verhängnisvollste Misstrauen aus: Das fehlende Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, etwas verändern und etwas gestalten zu können. Das trifft nicht nur die eine oder die andere Partei, das richtet sich gegen unser Gemeinwesen als ganzes. Hier droht eine innere Auswanderung aus unserer Demokratie, die wir nicht tatenlos hinnehmen dürfen.

Noch erleben wir keine wirklich bedrohlichen Äußerungen von Enttäuschung und Wut. Wir müssen aber einen stillen Abschied und privaten Zynismus beobachten, resigniertes Schulterzucken von Menschen, die von der Politik nichts mehr erwarten. Das geht oft einher mit fehlendem Vertrauen in die eigene Zukunft.

Es ist höchste Zeit, etwas dafür zu tun, dass wir die Vertrauenskrise überwinden, in die unsere Gesellschaft geraten ist. Wir müssen die Grundlagen des Vertrauens wiedergewinnen. Schönreden hilft da nicht. Wir werden uns anstrengen müssen.

Die Politik muss die Initiative wiedergewinnen gegenüber wirtschaftlichen und anderen Einzelinteressen. Die politische Gestaltung muss zurück in die Parlamente. Die Abgeordneten müssen mit ihrer Stimme die Richtung bestimmen und nicht bloß Beschlüsse von Kommissionen und Konsensrunden verabschieden.

[...]

Und nichts stärkt das Vertrauen der Menschen mehr als die Übereinstimmung von Wort und Tat. Das ist der einfachste Weg, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen - und der ist schwer genug: Sagen, was man tut, und tun, was man sagt.

Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, aber auch Pflichtbewusstsein und Anstand sind Tugenden, auf die wir nicht verzichten können. Wir müssen darauf vertrauen können, dass jede und jeder, da, wo sie Verantwortung tragen, ihre Pflicht tun, dass sie wahrhaftig sind und sich anständig verhalten.
  • Wir müssen darauf vertrauen können, dass Handwerker ordentlich arbeiten und korrekt abrechnen. Und die müssen darauf vertrauen können, dass ihre Rechnungen pünktlich bezahlt werden.
  • Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Manager in erster Linie an das Unternehmen, seine Anteilseigner und Beschäftigten, denken und nicht an ihre eigenen Abfindungen oder Aktienoptionen.
  • Wir müssen uns darauf verlassen können, dass wir richtig beraten werden, bei der Bank, beim Einkaufen, beim Abschluss von Verträgen.
  • Wir müssen uns darauf verlassen können, dass nicht nur bei Lebensmitteln der Grundsatz gilt: "Es ist drin, was drauf steht."
  • Wir müssen uns darauf verlassen können, dass die öffentliche Verwaltung frei von Durchstechereien und unbestechlich arbeitet, wie das dem stolzen Ideal des deutschen Beamtentums entspricht.
  • Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Ärzte uns richtig behandeln - und dass sie korrekt abrechnen.
Das sind Forderungen an jeden Einzelnen von uns, da, wo er Verantwortung trägt. Wie aber kann der Einzelne motiviert werden, selber anständig zu handeln und vertrauenswürdig zu sein, wenn er den Eindruck hat, das große Ganze stimme nicht und der Ehrliche sei wirklich oft genug der Dumme?

Das kann nur gelingen, wenn in der Politik deutlich wird, dass es noch Zukunftsentwürfe gibt, Ziele - und den nötigen Gestaltungswillen. Politik muss mehr sein als ein Reparaturbetrieb gesellschaftlicher Verwerfungen. Politik muss gestalten und darf nicht der Wirklichkeit hinterherhinken. Politik muss mehr sein als die möglichst geschickte Form, das zu kommentieren, was ohnehin geschieht.

Wir müssen den Primat der Politik wieder gewinnen - einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren.

Politik muss wieder zeigen, dass es sie gibt und dass sie etwas für die Menschen bewirken kann.

Neues Vertrauen in staatliches Handeln wird aber nur wachsen, wenn in Politik und Verwaltung solide gearbeitet wird. Dazu gehört die ernsthafte Auseinandersetzung mit allen Sachfragen, bis ins kleinste Detail. Dazu gehört die Einsicht, dass politische Entscheidungen ihre Zeit brauchen, wenn sie vernünftig sein sollen. Ein westfälischer Mathematiklehrer hat einmal ganz schlicht gesagt: "Richtigkeit geht vor Fixigkeit".

Politik muss Probleme lösen. Diese Forderung richtet sich an die politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen, denn Bund, Länder und Gemeinden sind vielfältig aufeinander angewiesen. Keine politische Partei kann heute nur auf andere zeigen, wenn es darum geht, Veränderungen durchzusetzen.

Ich sage das ausdrücklich an die Adresse aller politisch Handelnden in Regierung und Opposition. Es ist ein Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, wenn eine Regierung Vorschläge nur deswegen ablehnt, weil sie von der Opposition kommen, obwohl sie sie insgeheim für vernünftig hält. Und es ist genauso Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, wenn eine Opposition vernünftige Vorhaben nur deshalb scheitern lässt, weil sie von der Regierung kommen, obwohl sie sie selber genauso durchsetzen würde, wenn sie an der Macht wäre.

Wer das von fast allen als richtig Erkannte allein aus wahltaktischen Motiven blockiert, mag zwar hoffen, kurzfristig Zustimmung zu gewinnen. Langfristig wird aber unser ganzes Land verlieren.







Eines müssen wir wieder entdecken: Wir können politisch gestalten, wir können Weichen stellen. Wir können sagen, wohin die Reise gehen soll. Dazu braucht es den politischen Willen, den Willen zur Politik. Große Spiele, sagt man im Fußball, werden im Kopf entschieden. Da ist viel dran. Was sich ändern muss, das ist die Haltung, die viele resignieren oder Abschied nehmen lässt von Politik und Staat. Diese Haltung führt letztlich dazu, dass unsere Gesellschaft auseinander fällt und dass jeder versucht, irgendwie für sich allein durchzukommen. Das aber wird nicht gut gehen.

Wir müssen wieder begreifen: Der Staat, die Gesellschaft, das Land, das sind wir, das ist jeder einzelne. Das ist unsere gemeinsame Sache und diese gemeinsame Sache können wir selber gestalten. Wir hören oft, man müsse die Menschen "mitnehmen", zum Beispiel auf den Weg der Reformen. Das ist gewiss richtig. Orientierung und Führung sind notwendig.

Genauso notwendig ist es aber, auf die Menschen zu hören. Deshalb müssen wir uns neue Gedanken darüber machen, wie sich die Menschen besser und stärker an den Entscheidungen beteiligen können. Wir brauchen neue Ideen und Möglichkeiten für Mitgestaltung und Partizipation in unserer Gesellschaft. Wir müssen politische Willensbildung unter den heutigen Bedingungen besser organisieren.

Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit. Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Freiräume gegen puren Ökonomismus und gegen das alles beherrschende Dogma von Effizienz und Gewinnmaximierung.

Es gibt eine gefährliche Wechselwirkung von Staats- und Politikverdrossenheit auf der einen Seite und den allzu pauschalen Forderungen nach Privatisierung, Deregulierung und Rücknahme staatlicher Verantwortung auf der anderen Seite.

Die solidarische Absicherung gegen die großen Lebensrisiken, die sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft schafft und damit soziale Stabilität, wird immer häufiger verächtlich gemacht. Sozialer Ausgleich und soziale Gerechtigkeit, so heißt es, bedrohten die Freiheit des Einzelnen. In Wirklichkeit ist es doch immer noch so, dass die Freiheit der meisten Menschen, dass ihre Chancen, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten, ganz wesentlich von der gesellschaftlich organisierten Solidarität abhängt.

Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstrengung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass die Starken sich nur noch um sich selber kümmern und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben.

Solidarität der Schwachen mit den Schwachen - das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft angewiesen.



Wer politisch vertrauenswürdig sein will, der darf nicht über jedes Stöckchen springen, das Interessenvertreter oder Medien ihm hinhalten. Da wird ein Fall von angeblichem Sozialmissbrauch im Ausland medial groß aufgemacht - der bei Licht besehen gar kein Skandal ist - und schon werden Gesetze geändert. Ähnliches ließe sich im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform sagen, ähnliches von der Steuerreform.

Wenn eine angeblich benachteiligte Gruppe nur laut genug schreit oder der blanke Populismus publizistisch Verstärkung erfährt, sind die Vorhaben von gestern heute schon nichts mehr wert. Das zeugt nicht von Souveränität. Es schafft vielleicht kurzfristig Applaus, aber nicht langfristig Vertrauen. Vertrauen gewinnt politisches Handeln durch Souveränität und Solidität. Kurzfristiger Aktionismus schafft eher Misstrauen, weil man dann nur darauf wartet, welches Thema wohl morgen hochgespielt wird. Vertrauen entsteht nur da, wo man einen klaren Kurs erkennen kann.

Vertrauen setzt voraus, dass es klare Verantwortlichkeiten gibt und dass sie klar erkennbar sind. Jeder Interessierte sollte wissen können, wer für welche Entscheidungen verantwortlich ist. Das ist aber heute kaum mehr möglich.

Die politisch Verantwortlichen vom Bund bis zu den Gemeinden sind heute zu oft in einer Verflechtungsfalle gefangen. Diese Blockade muss aufgelöst werden. Die institutionalisierte Verantwortungslosigkeit muss aufhören. Genau das muss die Föderalismuskommission zustande bringen.

Zur Ehrlichkeit gehört es darum auch zu sagen, dass vieles aus guten Gründen längst nicht mehr in Deutschland entschieden wird, sondern auf europäischer Ebene. Übrigens: Vertrauen und Glaubwürdigkeit der Politik werden auch dann beschädigt, wenn Politiker etwas als Ausgeburt der Brüsseler Bürokratie an den Pranger stellen, was sie selber in Bund oder Ländern beschlossen und der Europäischen Union vorgeschlagen haben.


Die Medien spielen in der demokratischen Gesellschaft eine besonders wichtige Rolle als Kontrollinstanz. Sie tragen besondere Verantwortung. Unabhängige Medien, die sogenannte vierte Macht im Staat, können und müssen dazu beitragen, dass politische und gesellschaftliche Zusammenhänge durchschaubar werden. Sie können und sollen Missstände und Skandale aufdecken, komplizierte Zusammenhänge erläutern, Hintergründe darstellen und Interessenkonflikte offen legen. Das ist in unser aller Interesse.

Wir müssen aber darauf vertrauen können, dass das Bild, das sie uns von der Welt zeigen, einigermaßen mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Auch hier haben viele Menschen inzwischen viel Vertrauen verloren. Sie haben gelernt, dass man nicht nur mit Schlagzeilen, sondern auch mit Bildern lügen kann, dass halbe Wahrheiten oft schlimmer sind als ganze Lügen, dass nicht alle Themen, die groß aufgemacht werden, wirklich wichtig sind.

Die Medien haben Macht. Oft ist der Grat schmal zwischen scharfer Kritik, die berechtigt ist, und der publizistischen Jagd auf einen Menschen, für die es keine Rechtfertigung geben kann.

Vieles in unserer Gesellschaft, vieles in Politik und Wirtschaft gibt wahrlich Anlass zu Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Fehlern und Mängeln kann das Vertrauen stärken. Es gibt aber auch in den Medien eine fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Übertreibung. Diese Lust fördert die Entfremdung der Bürger von Politik und Staat.

Der ökonomische Erfolg allein, der Blick auf Quote und Auflage darf die Grundregeln journalistischer Arbeit nicht außer Kraft setzen. Intendanten und Verleger, Chefredakteure und Journalisten - sie alle tragen Mitverantwortung für das Gemeinwesen, das auch durch Häme und Zynismus in Gefahr geraten kann.


Wir müssen die Vertrauenskrise überwinden. Wir müssen vor allem wieder Vertrauen in uns selber gewinnen.

Wir müssen uns immer wieder selber klar machen und mehr darüber sprechen, dass es für uns Deutsche gute Gründe gibt, mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft zu schauen.

Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen können nicht wachsen ohne das Bewusstsein davon, wer wir sind und woher wir kommen.

In den letzten Jahren haben sich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger neu für unsere Geschichte interessiert. Ich verstehe das als Teil einer Suche nach Identität und Selbstvertrauen.

Dabei gilt für unser Land das gleiche wie für jeden einzelnen Menschen.

Jeder Mensch braucht ein positives Bild von sich selber und strebt danach es zu haben. Gewiss: Jeder Mensch hat in seinem Leben Gutes und Schlechtes erlebt. Aber er kann nicht auf Dauer mit sich selber im Reinen sein, wenn er allein das Schlechte über sein Selbstbild bestimmen lässt.

Auch eine Nation braucht insgesamt ein positives Selbstverständnis und ein positives Verhältnis zu sich selber. Nur so kann sich ein Wir-Gefühl entwickeln, das die Grundlage jeder Nation ist. Neben den Erinnerungen an Niederlagen und an Versagen müssen auch Erinnerungen an Erfolge und Glück stehen. Und ein Blick in unsere Geschichte zeigt nicht nur die furchtbaren Verirrungen und Katastrophen, er zeigt auch, dass politischer Wille und gesellschaftliche Kraft Veränderungen zum Guten bewirken können. Solches Vertrauen in die eigene Kraft brauchen wir.

Vor wie vielen Problemen und Herausforderungen standen wir vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren! Wir hatten es mit Schwierigkeiten zu tun, die vielfach als unlösbar galten - und die dennoch gemeistert wurden. Im Rückblick wissen wir auch, dass es eine Reihe von Entwicklungen gegeben hat, die niemand voraussehen konnte, Entwicklungen, die uns viel Gutes gebracht haben.

Der Fall der Mauer und die europäische Einigung sind die beiden herausragenden Beispiele dafür.

Nie war das Leben der großen Mehrheit in Deutschland freier und individueller als heute. Gewiss: Es gibt auch die Gefahr der Vereinzelung, der Auflösung sozialer Bindungen. Aber alles in allem hatten noch nie so viele Menschen so viele Lebenschancen wie heute.

Unsere deutsche Gesellschaft ist weltoffen und - auch im Vergleich zu anderen Ländern - tolerant gegenüber Minderheiten. Das merken Besucher, die zu uns nach Deutschland kommen, oft stärker als wir selber.

Auf meinen Reisen habe ich immer wieder erfahren, wie groß in allen Teilen der Welt das Vertrauen in uns Deutsche ist.

Das sind positive Entwicklungen, die man nicht voraussehen konnte. Auch manche Ängste und Befürchtungen sind nicht wahr geworden.

Da war vor allem die Angst vor einer atomaren Schlacht zwischen den Supermächten, ausgetragen in Europa, auch auf deutschem Boden, und da war die Angst vor einer ökologischen Katastrophe, die über viele Jahre auch in anderen Ländern mit dem deutschen Wort "Waldsterben" verbunden war.

Beides ist nicht wahr geworden. Nicht, weil ein Wunder geschehen wäre, sondern weil Menschen Einsicht und Veränderungsfähigkeit bewiesen haben und weil sie mit Engagement für ihre Ziele gearbeitet haben.

Wahrscheinlich gibt es kein zweites großes Land auf unserer Erde, in dem die Menschen umweltbewusster leben als in Deutschland. Wer hätte geglaubt, dass Deutschland tatsächlich den Umstieg auf eine Energieversorgung ohne Atomkraft beschließt! Selbst wer diese Entscheidung für falsch hält, muss anerkennen, dass auch das ein Beispiel dafür ist, dass viele Einzelne, die sich zusammen tun, politisch tatsächlich etwas bewegen können.

Wir sollten uns gelegentlich auch an die gewaltigen Veränderungen der Wirtschaftsstruktur in Deutschland erinnern. Seit über vierzig Jahren schon erleben wir an vielen Orten und in vielen Regionen einen atemberaubenden Strukturwandel. Wir leben ja nicht erst seit gestern in einer Zeit des permanenten Wandels und Aufbruchs. Da ist nicht nur vieles weggebrochen. Da ist auch durch Ideenreichtum und Tatkraft vieles geschaffen worden - im Westen und im Osten.

Das kann Hoffnung machen, dass es uns auch in Zukunft gelingen wird, schwere Probleme zu lösen - auch solche, von denen wir heute noch nicht wissen, auf welche Weise wir das am besten schaffen können.



Auch heute ist unsere Gesellschaft nicht starr. Sie ist in Bewegung.

Wir haben wagemutige Unternehmer, international renommierte Forscher und Wissenschaftler, kreative Ingenieure und hervorragend qualifizierte Arbeitnehmer. Sie schauen nach vorn und bringen unser Land voran.

Es gibt viele gesellschaftliche Initiativen. Ehrenamtliches Engagement und Netze, die für sozialen Halt sorgen, die Neues ausprobieren im kleinen und werben für Veränderung im großen. Was an einem Ort gelingt, kann durch die neuen Kommunikationsmittel schnell Schule machen und oft weltweit Bedeutung bekommen.

Ich sehe, dass immer mehr Menschen, auch unter den jüngeren, den Wert der Familie und den Wert von beständigen, verlässlichen Bindungen wieder erkennen. Ich sehe, dass Kinder mehr Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt bekommen - das gibt ihnen unschätzbaren Halt und ein Grundvertrauen, das durch nichts zu ersetzen ist.

Gegen alle pessimistischen Töne dürfen wir auch nicht übersehen, wie viele traditionelle oder neue Organisationen und soziale Zusammenhänge funktionieren und wie viel Engagement und Solidarität in Nachbarschaftshilfe, in Selbsthilfegruppen und in vielfältigen Formen ehrenamtlicher Arbeit lebendig sind.

Junge Menschen haben einen hoch entwickelten Sinn für Fairness und Respekt. Sie engagieren sich für andere, sie tun ganz praktisch etwas gegen Hunger und Armut in der Welt und für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Ihr Engagement ist oft auf ein Projekt bezogen und nicht auf Dauer angelegt. Alle Organisationen und Institutionen sollten solche Angebote machen und zugleich Verständnis dafür wecken, dass eine lebendige Demokratie ohne dauerhaftes, ohne verlässliches Engagement möglichst vieler nicht existieren kann.

Mir macht auch Hoffnung, dass viele junge Menschen sich in der Welt umsehen - nicht nur als Touristen. Im Ausland arbeiten, studieren, für andere da sein - das stärkt nicht nur die eigene Persönlichkeit, das formt oft auch einen neuen Blick auf das eigene Land. Junge Menschen berichten dann oft, dass sie unser Land mit einem gewissen Abstand gelassener sehen und günstiger beurteilen.

Es gibt viele Gründe darauf zu vertrauen, dass wir in Deutschland erfolgreich eine gute Zukunft für alle gestalten können. Diese Gründe für Vertrauen und Zuversicht gibt es, ohne dass irgend etwas schöngeredet werden müsste.

Wir haben Gründe zu vertrauen, wenn jeder von uns und wenn wir alle gemeinsam Verantwortung übernehmen - Verantwortung für uns, Verantwortung für andere, Verantwortung für unser Land.

Es kommt auf jeden Einzelnen an, aber wer mehr Möglichkeiten, wer mehr Einfluss hat, der trägt auch eine größere Verantwortung.

82 Millionen Menschen leben in unserem Land, das sind 82 Millionen verschiedene Erfahrungen, Begabungen, Stärken und Talente. Vieles davon fließt in unsere Unternehmen, in die Schulen und Hochschulen, in Kunst und Kultur. Dies Potenzial wird für unser Gemeinwesen noch viel zu wenig erschlossen.

Viel zu häufig dient die Kritik an konkreten Missständen als Ausrede dafür, sich nicht selber einzumischen. Politik sei ein schmutziges Geschäft, ist nicht nur an Stammtischen und in Vorstandscasinos zu hören. Aber da entstehen keine Gesetze. Und vom Zuschauen wird keine Schule gebaut, kein Kindergarten renoviert, keine Landschaft geschützt, keine Sozialstation unterhalten.

Ja, wer etwas zu kritisieren hat an unserem Land, der soll das tun. Wer aber etwas verändern will in unserem Land, der muss etwas tun. Er muss sich einmischen, muss mitarbeiten, muss Verantwortung übernehmen für unser Land.

Eltern übernehmen selbstverständlich Verantwortung für ihre Kinder, sie mischen sich ein, sie sorgen und sie helfen, damit ihre Kinder eine sichere Zukunft haben. Das gilt auch im übertragenen Sinne:

Dieser Staat, diese Bundesrepublik ist das Kind unserer Eltern und Großeltern und wir alle haben von dem profitiert, was sie aufgebaut haben. Heute ist es an den nächsten Generationen mitzuhelfen, dass unsere Zukunft sicher bleibt. Das kann man auf vielen Ebenen und auf vielen Feldern tun: Als Mitglied einer Partei, einer Kirche oder Gewerkschaft, im Sportverein, in der Bürgerinitiative, bei Hilfswerken, in sozialen Einrichtungen oder Verbänden oder wo immer Menschen sich zusammenfinden und Verantwortung für sich und für andere übernehmen.

Es gibt viele Möglichkeiten, etwas für andere zu tun - sie alle sind besser, als nur über andere zu reden oder darüber zu klagen, wie schlimm die Verhältnisse sind.


Es gibt genug Gründe für Vertrauen in Deutschland. Es gibt noch mehr Gründe, Verantwortung zu übernehmen und sich einzumischen.

Es gibt genug Gründe, darauf zu vertrauen, dass wir in Deutschland die Zukunft meistern werden. Es gibt noch mehr Gründe, sich einzusetzen für unser Vaterland, in dem wir gerne leben.

Es liegt an jedem von uns, dieses Land, unser Land jeden Tag ein Stück besser und menschenfreundlicher zu machen.


Diese Berliner Rede 2004 war die letzte von Johannes Rau.

Mittwoch, 28. Mai 2008

Gelohnt

Da hat sich ja wohl das Engagement des Herrn Notheis gelohnt...

Interessant ist, dass dies schon festgelegt wurde, bevor der Bundestag sich entschieden hat. Aber vom demokratischen Verständnis scheint in diesem Land immer weniger übrig geblieben zu sein, wenn schon ein Bundesvorstandsmitglied der CDU weitgehend unwidersprochen mit dem elementaren Demokratieprinzip "one man, one vote" brechen kann...

Tja, viel bleibt nicht mehr.

Der Weg nach vorn

Und der Mond geht auf und ab.

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