Freitag, 14. August 2009

Der Wahltag als Trauertag

Denke ich an den Wahltag im Herbst, so wird mir ehrlich gesagt richtig mulmig. Wir dürfen zu einer Wahl schreiten, auf die weiterhin vier Jahre Merkel folgen. Ob mit Westerwelle oder einer geschrumpften SPD spielt letztlich keine große Rolle, weil auch in der gegenwärtigen SPD die konservativen Kreise das Zepter fest in der Hand halten und Angst vor jedem linken Gedanken haben, der einerseits tatsächlich etwas ändern könnte und andererseits von konservativen Medien (also fast allen) als Linksrutsch diffamiert werden würde. Und das, obwohl die Zeit nach einer starken und standhaften Sozialdemokratie schreit. Aber diese Schröder- und Post-Schröder-Partei: Ach, vergiss es.

Die Grünen (abgesehen von Cornelia Behm) haben zwar die besten Wahlplakate und auch kein so schlechtes Programm, aber wenn man gut hinhört, dann hört man, wie wichtige Stimmen einer Liaison mit der CDU durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen. Nicht umsonst betont man hier, man macht einen reinen grünen Wahlkampf, nur für Grün, damit man hinterher umso flexibler sich an Mutter Merkels Busen sich schmiegen kann. Und das wäre tatsächlich eine offene Kampfansage an große Teile der WählerInnen und auch MitgliederInnen. Gerade bei den Grünen weiß ich in diesem Jahr überhaupt nicht, woran ich bin: Ja, diese Partei hat fähige Leute im Parlament, unter anderem Gerhard Schick. Und inhaltlich hat sich die Partei in der letzten Zeit durchaus nach links bewegt. Zugleich hat sie einen starken bourgeoisen (um nicht bürgerlich zu schreiben) Flügel, dessen Hauptziel der Dienst an der eigenen Klientel ist: Bio ja, aber bitte auch eine Schuldengrenze, schließlich ist ein ausgeglichener Haushalt lebenswerter als eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur. Die Haltung zur Bahnprivatisierung (weitestgehend FDP-kompatibel und orientiert auf Privatbahnen) zeigt, das neoliberales Denken auch in dieser Partei (oder zumindest in wichtigen Teilen) fest verwurzelt ist.

Und die Linken? Mh. Sie sind die einzigen, die derzeit meine wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen vertreten und makroökonomische Kompetenz beweisen. Sie besetzen wichtige Themen und vertreten sie so, dass ich ihnen zustimmen muss. Und ja, sie sind im Osten auch eine Partei der Kümmerer und vertreten hier auch die Milieus, die im Westen grün-alternativ sind. Aber ein Blick hinter die Kulissen offenbart zugleich, dass das öffentliche Bild der modernen, sozialen, gewerkschafts- und facharbeiterlich geprägten Partei vielleicht im Westen stimmen mag, aber hier im Osten dürfte die Linke nach wie vor die Partei mit dem höchsten Durchschnittsalter sein. Zumindest hier in Potsdam bestimmen die alten SED-Leute das Bild (siehe die Bilder auf jener Mitgliederversammlung. Und ein beachtlicher Teil dieser Milieus ist ähnlich konservativ und ordnungsfixiert wie die CDU. Weltoffen sieht anders aus.

Die Piraten? Ebenfalls mh. Angesichts der Wirtschaftskrise und der sozialen Schieflage halte ich es für grob fahrlässig, Themenkreise jenseits von Netz- und (politischen/persönlichen) Bürgerrechten zu missachten. Diese Wahl ist eigentlich zu wichtig, um nur ein Thema mit meinen Kreuzen auf den Wahlzetteln zu bestimmen.

Tja, was bleibt da? Zunächst großer politischer Frust. Der kommt daher, dass es faktisch in diesem Jahr in Anbetracht der politischen Großwetterlage nichts zu wählen gibt, aber zugleich die Zeit für einen radikalen Kurswechsel reif ist. Die Parteien, aber auch die großen Medien inszenieren passenderweise einen Nichtwahlkampf um Busen, Dienstwagen und anderen PR-Peinlichkeiten. Finanz- und Wirtschaftskrise? Vorbei, denn jetzt kommt der Aufschwung zurück. HRE und eine Reform des Bankenwesens samt Aufsicht? Viel zu kompliziert und uninteressant. Außerdem ist das ja systemrelevant. Lobbyismus? Ach, das machen doch alle. Hallo, geht es noch?? Für wie dumm lassen wir uns eigentlich verkaufen? Wo sind die Gewerkschaften, nachdem sie im Mai noch diese wirklich beeindruckende Demo in Berlin auf die Beine gestellt haben? Wo sind die kritischen KünstlerInnen, die lokal oder national die Menschen in Verwirrung stürzen und damit zum Denken und zum Diskutieren anstiften? Ist dieses Land kollektiv im Urlaub oder unter Vollnarkose auf der Intensivstation?

Nichts wünsche ich mir politisch dringlicher als eine offene Debatte über dieses Land, über die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit und darüber, wie wir aus diesem Schlamassel einigermaßen klug herauskommen, wen wir wofür zur Rechenschaft ziehen und wen wir was bezahlen lassen wollen. Vielleicht bin ich auch bereit, meinen kleinen Beitrag zu leisten. Aber dafür verlange ich, dass den Hauptteil die zu übernehmen haben, die den Staat und damit alles, was zur Infrastruktur des Landes gehört, in den letzten Jahren gnadenlos abgezockt und beraubt haben. Dass ich ein glaubhaftes, mindestens durch Rücktritte unterstrichenes Wort der Reue höre. Aber da passiert nichts. Und noch etwas fehlt mir in diesem Wahlkampf: Der politische Streit um Visionen von der Gesellschaft, in der wir zukünftig leben möchten. Und da gehört für mich unter anderem dazu:
  • eine solidarische Gemeinschaft, in der keiner für Hungerlöhne ausgebeutet wird, sondern alle von ihrer Arbeit leben können, und in der alle ihren (finanziellen) Beitrag für diesen Ausgleich leisten und keiner mehr an den Pranger gestellt wird, nur weil er keine Arbeit finden kann,
  • eine demokratische Gesellschaft, die den BürgerInnen und Bürgern des Landes Freiräume ohne Zugangsbarrieren offenhält, sich einzubringen und das Gemeinwesen mitzugestalten, wozu sowohl eine Absicherung der individuellen Notlagen, als auch das Recht auf materielle, politische und kulturelle Teilhabe, als auch auf überwachungs- und herrschaftsfreie Räume, also auch eine gute öffentliche Infrastruktur (Daseinsvorsorge und nicht zuletzt Bildung) gehört,
  • eine offene Gesellschaft, die auch bereit ist, das "Andere"/"Fremde" zuzulassen, seien es Menschen aus anderen Gegenden und mit anderer Kultur, seien es Menschen mit Behinderungen, seien es Lebensweisen, die der geschlechtlichen Heteronormativität nicht entsprechen,
  • eine Öffentlichkeit, die nicht durch die Interessen von Medienkonzernen, PR-Agenturen und Lobbyorganisationen geprägt ist,
  • ein Staat, der abrüstet und zwar sowohl nach außen als auch nach innen und damit das Misstrauen und die Angst gegenüber seinen BürgerInnen überwindet (in der Innen- und in der Sozialpolitik!),
  • eine Politik, die bereit ist, aus eigenen Fehlern zu lernen und deshalb auch nach eigenen Fehlern sucht,
  • eine Gesellschaft, die weiß, dass sie der Natur Respekt zu zollen hat und sich darauf besinnt, dass die ökologische Krise noch vor uns steht.
Das ist noch längst nicht alles, was mir in diesem Land fehlt, aber darum sollten wir uns doch wohl bemühen können.

Vielleicht kann mir ja auch jemand widersprechen und zeigen, dass ich mich irre, dass der Wahltag und damit die kommende Legislaturperiode noch nicht verloren sind, aber bislang werde ich wohl zur Urne wie zu einer Beerdigung schreiten.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Der Weg nach vorn

Und der Mond geht auf und ab.

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